Seethaler und der Alsergrund

Mit dem 9. Wiener Gemeindebezirk Alsergrund hat Helmut Seethaler vielerlei Verbindungen. Er bezeichhnet sich als "gezeugten, geborenen und getauften Alsergrunder".

 

Der folgendeText erschien 2008 im Katalog zur Ausstellung "Wunderwelt / Kinderwelt . 60 Jahre Zeitschrift Wunderwelt" im Bezirksmuseum Alsergrund.

 HELMUT SEETHALER

 Meine (VER)BINDUNGEN zum 9. Bezirk

 

13.3.1953:

Wie die meisten Schwangeren aus armen Schichten im Norden und Osten Wiens begab sich Franziska S. ins Alte AKH (Haupteingang: Lazarettgasse). Ihr 2.Kind drängte auf die Welt. Ihr 1., mein Bruder Willy, wurde 2 Jahre vorher hier geboren und lag nun im Sterben. Der 2. Sohn sollte mindestens 55 Jahre werden.

 

In der Nähe des Krankenhauses besaß sie ein kleines Milchgeschäft mit darüber liegender Zimmer-Küche-Wohnung: Lazarettgasse 15. Im Keller dieses Hauses überlebte sie neun Jahre vorher einen Fliegerbombentreffer: „Gas! Gasaustritt! Alle raus!“, erzählte sie manchmal, waren die entscheidenden Worte, die sie nach der Detonation hörte.

 

Da sie als Letzte in den Kellerbunker kam und gleich bei der Tür saß, wurde sie als Erste von Unbekannten unverletzt geborgen. All ihre persönlichen Sachen blieben zurück. Und verbrannten. Ihre beste Freundin, die später meine Taufpatin in der Pfarre Alservorstadt (Alser Straße 17) werden sollte, wurde auch gerettet.

 

Die meisten anderen überlebten nicht.

 

Dann stand sie vor der Ruine und wusste: Das, was ihr Leben bestimmte, gab es nicht mehr. Sie kehrte zurück in ihr kleines Dorf bei Retz.

 

Anfang der 1950er Jahre baute man das Haus wieder auf. Sie konnte weiter Milchfrau sein.

 

Im Zug nach Wien stieg in Stockerau jemand ein, der für sie und mich große Bedeutung bekommen sollte … Wie ich in einem Brief meines Vaters an sie erkenne, legten meine Eltern die Grundzüge meines Lebens im 9. Bezirk. Ich bin somit gezeugter, geborener und getaufter Alsergrunder.

 

Später übersiedelten meine Eltern in die Brigittenau. Der 9. blieb aber Drehscheibe meines Lebens. Vom 11. bis zum 20. Lebensjahr stieg ich täglich außer Sonntag um halb 8 bei der Markthalle (Nußdorferstraße 22/Ecke Alserbachstraße) - heute ein „Spar-Gourmet-Markt“ - vom 5er (Straßenbahn) in den 40A (Autobus). Nach 5-6 Stunden verlief es umgekehrt.

 

Man steckte mich in das Albertus-Magnus-Gymnasium der Marienbrüder im 18. Bezirk, Semperstraße 45. Damit aus mir was wird. Das haben sie nun davon.

 

In der 7. Klasse schaffte ich 800 Fehlstunden und es gab ein Extra-Jahr.

 

Mein Vater war ÖBB-Schaffner, wir konnten billigst Bahnfahren. Symbol für viele kleine Reisen ins Waldviertel, in den Wienerwald, in die Wachau wurde der alte, jahrzehntelang seine Kriegsfolgen zeigende Franz-Josefs-Bahnhof (Julius Tandler-Platz).

 

20% Rabatt hatten wir im erst Anfang 2008 aus Altersgründen der Besitzer gesperrten „Kleiderhaus zum Eisenbahner“ am Julius-Tandler-Platz, schräg gegenüber dem Bahnhof.

 

Geprägt durch viele bei der Bahn arbeitende Vorfahren entwickelte ich eine besondere Neigung zur Bahn. Mit Fünf bekam ich eine Kleinbahn. Bei jedem Anlass schenkte man mir Stück um Stück für den weiteren Ausbau.

 

Manchmal besuchten mein Vater und ich seinen Bruder, der im Franz-Josefs-Bahnhof einen strengen Ober-Aufsichts-Beamten (Fahrdienstleiter und Erhebungsbeamter) für die ganze Strecke spielte.

 

Auf dem Weg zu Verwandten überquerten wir meist mit der kleinen Rollfähre Höhe Rossauerlände den Donaukanal. Heute steht hier die Fußgeher- und Radfahrerbrücke zur U4-Station.

 

In der Tanzschule Pauser (Ecke Nußdorferstraße/Fuchsthallergasse) versuchte ich zwei Jahre vergeblich, tanzen zu lernen. Besser gelangen manchmal die Versuche, meinen Tanzpartnerinnen nach den Tanzstunden in Lokalen des 9. Bezirks näherzukommen.

 

Mein schlimmstes Kindheits-Erlebnis hatte ich als 12jähriger in einem übervollen 5er zwischen Alserbachstraße und Friedensbrücke. Ich drückte auf die fast noch ganz volle Kakao-Packung eines Schulfreundes - während er trank.

 

Der Inhalt verteilt sich auf mehrere Fahrgäste. Der 5er hatte 5 Minuten Verspätung. Alle Betroffenen stiegen aus. Man forderte Reinigungskosten. Der Schaffner nahm meine Streckenkarte und gab sie der am meisten Bepatzten. „Den Ausweis kriegst zruck, wennst des Geld für de Putzarei bringst.“ Sie schrieb mir ihre Adresse auf.

 

Am selben Tag holten ihn meine Eltern zurück. „Is eh a nette Frau“, sprach mein Vater: „Hot nur 20 Schülling woin.“ Tagelang war ich brav wie nie. „So schtü und foigsam is a sunst net.“, meinte meine Mutter: „Des kennt ruhig öfta passieren.“

 

Am im Jahre 2006 zerstörten Sportplatz Sensengasse (Ecke Spitalgasse) - nun droht dort ein immer größer werdender Büroblock - erlebte ich einige sportliche Misserfolge und 2x das Gegenteil. Im Fünfkampf wurde ich einmal 4., einmal 5., im 1000 und 2000m-Lauf überschätzte ich oft meine Kräfte, führte 3 Runden und ging als Letzter ins Ziel.

 

Vor dem Colosseum-Kino (Nußdorfer Straße 4)- heute eine „Hofer“-Filiale - zitterte ich als 16jähriger einem Kinobesuch mit meiner Tanzpartnerin entgegen. Auch heute zittere ich wegen ihr 2x im Jahr. Sie wurde meine Zahnärztin.

 

Einer meiner Schulfreunde wohnte in der Seegasse. Ein Arztsohn. Auch er wurde Arzt. Auch im 9. Ich begleitete ihn manchmal nach der Schule nach Hause, wir – vor allem ich - führten uns in den Straßen des 9. auf wie ganz blöde Jungs und schreckten die Leute.

 

Im „Freien Kino“ in der Glasergasse - heute Forumtheater (Porzellangasse 50 - Eingang Glasergasse) - war ich von Anfang an Mitglied (1972-1976). So zahlte man nur 10 Schilling (etwa EUR 0,75 pro Vorstellung. Ich sah fast jeden Film. Dienstag und Freitag war Programmwechsel. Stets ging ich zu Fuß über die Friedensbrücke in den 9. Bezirk und nach dem Kino kam ich erst über lange Umwege nach Hause, diese führten meist quer durch den Alsergrund.

 

Im Kolpinghaus (Althanstraße 51) organisierte ich 2x erfolgreich Schul-Großpartys.

 

Meiner Mutter fehlten ein paar Monate, um eine kleine Rente zu erhalten. Sie erfüllte die Zeit als Verkäuferin in einer Filiale der Bäckerei „Anker“ in der Alserbachstraße. Ihr eigenes Milchgeschäft musste sie Mitte der 1960er-Jahre zusperren. Neben diesem hatte eine „Billa“-Filiale eröffnet.

 

Mein Gymnasium lag im 18. Bezirk, die Schulmessen feierten wir aber in der Canisiuskirche (Pulverturmgasse 11). Wenn ein Ministrant fehlte, fragte man mich. Seit meinem 7. Lebensjahr war ich in meinem Wohnbezirk Ministrant der Pfarre St. Brigitta und sah diese Tätigkeit als unterhaltsame Theateraufführung.

 

Im Albert-Schweitzer-Haus (Garnisongasse 14-16 / Schwarzspanierstraße 13) fand meine 2. Lesung statt. An den Laternen zwischen diesem und dem „Café Schwarzspanier“ (heute „Weltcafé“ Schwarzspanierstraße 15) begann im November 1973 das, was ich seither 5millionenfach nicht nur im 9. und nicht nur in Wien fast täglich und nächtlich wiederhole.

 

Die für meine Taten oft benützten Wege führen durch die Porzellangasse, rund um den Franz-Josefs-Bahnhof und viele Straßenbahn-Stationen in diesem Bezirk tragen Zeichen meiner Existenz. Auch die vor dem Bezirksmuseum.

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